Menschlichkeit und Todesstreifen

Ich sitze hier auf dem Todesstreifen, auf dem Grenzstreifen der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze und ich hatte mir vorgenommen einen kleinen Bericht über die Erlebnisse der letzten beiden Tage zu schreiben, an denen wir bemerkenswerte, menschliche Begegnungen hatten.
Das Wort Menschlichkeit löst bei mir jedoch an diesem Ort so viele Fragen auf, dass ich mich kaum sammeln kann.

Ich denke über den Sinn von Bildung nach, über Frieden, menschliches Miteinander, über die Bedeutung, die diese Grenze für so viele Menschen hatte, über die Gewalt und das Leid. Über die Probleme, die wir heute bewegen und was unsere Kinder wohl darüber denken mögen.
In einem kurzen Moment sehe ich mich als kleiner Junge auf der Montagsdemo in Leipzig rufen: „Die Mauer muß weg!…“
….
Jetzt aber zum eigentlichen Thema.
Gestern morgen haben wir eine Hauptschule in Neustadt bei Coburg besucht. Zuvor konnten wir in der „Arche“ gegenüber übernachten. Ein Ort, der Jugendlichen unter anderem als Zufluchtsort dient. Der Diakon, der die Arche führt, erzählt uns von der hohen Jugendkriminalität und den verfeindeten Gangs, die hier ihre „Friedensverhandlungen“ führen. Einige von uns sind dem entsprechend gespannt, als es dann rüber in die Schule geht und wir denen begegnen, von denen uns berichtet wurde.
Von der Schulleitung und und dem Lehrerzimmer kam uns begeistertes Interesse entgegen und die Lehrer stritten fast darum, in wessen Klasse wir nun gehen sollten. Wir mussten uns also aufteilen bzw. nacheinander die Klassen besuchen. Ich fühle mich richtig wohl dabei und herzlich willkommen.
Einer fünften, zwei sechsten, einer achten und einer zehnten Klasse tauschen wir also Unterricht gegen lebendige Diskussionen im Stuhlkreis aus. Wir fragen, wie es ihnen an der Schule geht, was sie sich wünschen und wovon sie träumen. Manche der Antworten machen mich traurig und wütend. Schon in der fünften Klasse sagt ein Mädchen: „Ja wenn ich es auf die Real schaffen würde, dann hätte ich Möglichkeiten“ Die Lehrerin bemüht sich, Mut zu machen: „Nein, ich glaube, du kannst es auch schaffen Tierpflegerin zu werden, wenn du bei uns bleibst.“ Sie berichtet, wie sie von Unternehmen gehört hat, die gar nicht so sehr auf Abschlüsse schauen, sonder auf die Menschen, ihre Persönlichkeiten und Fähigkeiten. Ein anderes Mädchen kontert: „Meine Cousine ist auf der Real und sie meint, wenn ich hier bleibe, kann ich es gleich vergessen.
Mich schockiert die Perspektivlosigkeit, wie sehr sie sich als Rest empfinden, aus dem nichts werden kann. Trotzdem rührt mich, wie die Lehrer in allen Klassen versuchen, die Kinder und Jugendlichen zu stärken und ihnen die Ängste zu nehmen. Irgendwie hab ich das Gefühl, dass Schüler und Lehrer viel mehr zusammenhalten als ich es an vielen anderen Schulen erlebt habe.
In der achten Klasse herrscht Stille, nach der Frage „Was wünscht ihr Euch für Eure Schule?“ Die Lehrerin, die bisher gespannt der Unterhaltung gelauscht hat, bricht jetzt doch hervor: „Ich bin jetzt mal Schüler….“ und sie hockt sich hin „… ich will keine Noten mehr und auch den sinnlosen Lehrplan abschaffen.“ Sie bekommt zustimmendes Lachen und die Diskussion kriegt wieder neuen Schwung. Ein Schüler, der bisher die coolsten Sprüche auf Lager hatte und sich gern mal über die Aussagen der anderen lustig gemacht hat meint, er würde gern lernen, wie man einen Haushalt führt, das wird er ja auf jeden Fall brauchen, aber hat keine Ahnung…

Nach dem Unterricht unterhalte ich mich noch mit zwei Lehrerinnen, die aus Interesse mit zu einer unserer Runden dazu gekommen waren. „Es wäre so viel sinnvoller praktische Sachen im Unterricht zu machen und nicht ebenso abstraktes Zeug wie in den anderen Schulen, aber auf nem niedrigen Niveau. Davon haben die Jungs und Mädels dann nichts, wenn sie zum Beispiel ins Handwerk wollen.“ Trotz all dieser widrigen Umstände gefällt mir, dass sich die Lehrerinnen wirklich ernsthaft Gedanken um die Zukunft ihrer Schüler machen.

In unserer abendlichen Reflexionsrunde erzählen einige, dass sie auch durch die Erzählungen aus der Arche mit Vorurteilen in die Schule und vor allem auch die zehnte Klasse gegangen waren. Dass sie dachten die Schüler wären total aggressiv und vor allem dumm. Dass dann die Gespräche so menschlich und vor allem so ehrlich waren, hat dem Vorurteil eine deftige Ohrfeige verpasst. „Die Leute in der Klasse waren mir viel sympathischer als die aufgeblasenen Checker, wie wir sie von so manchen Gymnasien kennen.“ „Total erschreckend, wie schnell man in solche Gedanken rein geraten kann und um so besser, dass wir sie in der Wirklichkeit widerlegt bekommen haben“ „Ja, ich glaube jetzt nicht nur, dass das Einteilen in Menschen erster, zweiter und dritter Klasse Schwachsinn ist, ich habe den Beweis dafür mit erlebt!“
….
Ich muss das Schreiben unterbrechen, denn wir brechen auf und laufen weiter am Grenzstreifen entlang, der jetzt wahrscheinlich Deutschlands längster Wanderweg geworden ist. Was wohl diejenigen, die diese Grenze ersonnen haben dazu sagen würden?
Wir stoßen auf ein Schild, dass darauf hinweist, dass hier ein junger Mann erschossen wurde, beim Versuch die Grenze zu überwinden. Der Todesschütze bekam zu DDR-Zeiten eine Ehrenmedaille für „die schnelle Vernichtung eines Grenzverletzers“. Nach der Wende bekam er einen Prozess und wurde für zwei Jahre auf Bewährung verurteilt. Ich staune fassungslos. Die Begründung des Gerichts war sinngemäß so, dass er sich zu dieser Zeit keines Fehlers bewußt war und es viel Anstrengung und Gefahr für das eigene Wohlergehen gekostet hätte, sich gegen die vorherrschende Meinung und Ideologie aufzulehnen…..
Ganze Lawinen an Gedanken werden bei mir loßgetreten und auch die Analogie zu heutigen Themen kommt mir in den Sinn, nicht zuletzt auch der Vergleich, den Joey in seinem Text zwischen Abitur- und Kriegsverweigerung zieht.
Es geht weiter, Schritt für Schritt auf dem Plattenweg auf dem vor 25 Jahren noch Armee-Trabis entlang gebraust sind.

Die nächste bemerkenswert menschliche Begegnung des gestrigen Tages, hatten wir gegen Abend, als wir uns nach einem Schlafplatz umgesehen haben. Wir kamen gerade durch das ewig langgestreckte Dorf Judenbach im Thüringer Wald, dicke schwarze Wolken brauten sich am Himmel zusammen und es war klar, es würde heute Nacht nicht nur nieseln. Irgend ein Dach, eine Scheune oder Ähnliches haben wir uns deshalb sehr gewünscht. Zu Beginn unserer Fragen an Pfarrer und Dorfbewohner hatten wir wenig Glück. Manchmal, wenn wir nicht richtig rüberbringen, warum wir unterwegs sind und nur als Wandergruppe wahrgenommen werden, oder wenn irgendwas an unserer inneren Einstellung nicht stimmt (dazu wird es demnächst noch einen Blogpost geben) passiert es uns, dass wir von Einem zum Anderen weiter geleitet werden. So auch hier. Aber das über zwei Kilometer lange Dorf mehrmals hinauf und hinab zu Laufen gestaltete sich für unsere müden Füße als sehr schwer.
Irgendwann kam uns ein älterer, etwas schwerhöriger Mann entgegen, der ganz entrüstet war und meinte, hier müsse sich doch etwas finden lassen! Das etwas lautere Gespräch lockte andere Bewohner an ihre Fenster. Eine Diskussion entspann sich, warum dieser oder jener uns denn nicht aufgenommen hat, obwohl er doch genug Platz habe. Eine ältere Dame kam über die Straße und hielt nun jeden, der vorbei kam an, mit der Aufforderung uns aufzunehmen, denn sie hätten doch Platz. Die Atmosphäre wär lustig und locker. Es wurden immer mehr Leute, die dazu kamen und wir hatten das Gefühl, hier könnte sich etwas entwickeln. Wir spürten, dass es an der Zeit war geduldig zu sein und unser „Schicksal“ für heute Nacht in die Hände dieser freundlichen Menschen zu legen.
Die ältere Frau verlangte von den Leuten am Fenster nach der Zeitung, sie habe im Lotto gewonnen und will die Zahlen sehen. „Ich habe gewonnen, dann gehen wir ins Hotel mit Euch!“
Und tatsächlich, die Lottozahlen stimmen zwar nicht, aber es kommt eine Frau über die Straße und sagt prompt: „Ihr könnt bei uns schlafen. Wie viele seid ihr?“ „12.“ „Ach das wird schon passen…
Es ist die Tochter der älteren Dame, welche sich (wie sie uns später erzählt) königlich freut, dass ihre Tochter ebenso denkt, wie sie selbst.
Jetzt belagern wir erst einmal die Terrasse mit unserem Abendbrot. Unsere Senior-Gastgeberin ist entzückt: „Es ist sooo schön, dass ihr da seid, ach, als ich jung war, hätte ich so etwas auch so gern gemacht!“
Wir singen Lieder und plaudern, wir fragen sie, wie es denn für sie war, hier im Sperrgebiet zu leben. Sie erzählt, dass niemand einfach so rein raus durfte, nur mit Antrag und Gesichtskontrolle. Aber die Stimmung im Dorf sei trotz der Repressionen wunderbar gewesen, ganz anders als heute. Die Leute haben zusammen gehalten, die Nachbarn haben sich gegenseitig geholfen, um das Beste aus allem zu machen.
Inzwischen räumt ihre Tochter unter dem Dachboden zwei alte Kinderzimmer frei und wir können nicht nur fast alle auf Betten und Sofas schlafen, sondern dürfen auch noch duschen.
Die Stimmung ist ausgelassen, es werden viele lustige Geschichte erzählt. Aber auch über Bildung in der DDR und heute diskutiert.
Vor dem zu Bett gehen fragt uns der Schwiegersohn noch, wie viele Brötchen jeder Morgen früh essen will und ob wir Frühstückseier mögen. Wir sind überwältigt und wissen gar nicht, wie wir danken können. Die Frauen sagen, dass sie UNS danken, dass wir hier sind. „Das bringt so viel Leben ins Haus.“
Am nächsten Morgen singen wir zum Abschied „Heute hier, morgen dort.“ Der älteren Frau stehen die Tränen in den Augen, sie drückt jeden einzelnen zum Abschied. „Manche Menschen machen die Welt schon zu einem besseren Ort, indem sie Teil von ihr sind.“ steht auf einem Aufkleber am Kühlschrank. Mehr kann ich dazu nicht sagen.
….
Der Wanderweg auf dem ehemaligen Todesstreifen heißt jetzt laut Beschilderung „grünes Band“. Und das ist er ja inzwischen tatsächlich. Ein saftiges blühendes Stück Natur mit ganz seltenen Pflanzen und Tieren, die durch die Mienenfelder vor dem Menschen geschützt worden waren.
Vielleicht wird aus dem, was wir heute als Bildungslandschaft haben auch irgendwann so etwas wie ein grünes Band.
Der kleine Junge aus Leipzig schreit dafür nicht mehr lautstark rum, sondern er läuft jetzt quer durchs Land und irgendwie hat er immer noch eine ähnliche frohe Hoffnung und Zuversicht im Bauch, wie damals.

– von Jan

Kommentare (6) Schreibe einen Kommentar

  1. Jan, sehr guter Bericht und vielleicht auch einmal an diejenigen als Antwort zu verwenden, die meinen „ohne Schule“ auskommen zu müssen. Unsere Erde, unser Deutschland hat viele Facetten und so sind auch die Schulen unterscheidlich, je nachdem welche Philosophie die jeweilige Schule hat. Ich rate den Eltern zumindest bei den „weiterührenden“ Schulen darauf zu achten, wohin ihr Kind demnächst geht. Und eins noch:; Ich habe bei einem Bewerbungsgespräch nie auf ein Bild, Zeugnis, oder Bewerbungsschreiben geachtet, sondern ich bin mit ihr oder ihm essen gegangen. Das hat dan inklusiv Gespräch mindestens 2 Stunden gedauert. Für jemanden der eine einigermaßen Menschenkenntnis besitzt genügend Zeit um sein Gegenüber einschätzen zu können. Natürlich nicht einseitig, sondern beidseitig. Sicher kann man auch „hereinfallen“, das wäre dann auch wieder beidseitig möglich. Ängstlich durchs Leben zu gehen ist logischerweise falsch, dann kann man sich gleich begraben lassen.

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  2. Jan, Dein Bericht ist sooooo berührend – wie nah Ihr jungen Leute mir mit Eurem Anliegen seid! Jedenfalls verteile ich weiter meine Wunderkerzen mit dem „Funkenflug-Fähnchen“ ( funkenflug.de) daran. Muß toll sein, Euch als Gäste zu haben! alle(s) Liebe von Marvita

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  3. Lieber Jan,
    ich liebe deinen Bericht. Mit Tränen in den Augen hab ich gelesen und war währenddessen mit Euch zwölfen. Es ist wunderschön, wie die Menschen ticken, wenn man selbst mit goldener Absicht loszieht. Ich wünsche Euch weiterhin eine wunderbare inspirierende und impulsgebende Reise mit viel Unterstützung!

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  4. Hallo Jan,
    Du schreibst von einem Text von Joey, in dem er eine Parallele zwischen Abitur- und Kriegsdienstverweigerung sehe. Diesen hab ich nirgendwo finden können. Hast Du einen Tip für mich, wo der steht ? Ich würde ihn gerne lesen. Herzliche Grüße, Tomas

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