Von Verbotsschildern, Militärfahrzeugen und einer Gedenkstätte

   Es ist der 30. Mai, wir sind gut in der Zeit. Die Nacht haben wir in einem Kinderheim in Ostenholz verbracht, einem gemütlichen Haus mit acht Kindern (von klein bis elf), einem Hund und einer Katze. Die beiden in dieser Zeit zuständigen Erzieher haben uns sehr herzlich willkommen geheißen und wir durften in einem der Kinderzimmer schlafen. Für die zwei Mädchen und sechs Jungs sind wir eine echte Attraktion. Es klingeln halt nicht alle Tage zwei Mädels mit schweren Rucksäcken an der Tür und fragen nach einem Schlafplatz…

Nach einer Schüssel Müsli, einem lieben Eintrag in unser Logbuch und einem traurigen Abschied ziehen wir weiter. Es ist 9:30 Uhr, als wir das Haus verlassen. Seit gestern sind wir vorübergehend nur noch zu zweit, Rana und ich, Tabea. Unser Weg führt uns heute durch das militärische Sperrgebiet, welches an das Städtchen Bergen angrenzt. Das Verkehrsschild, dem wir folgen, verkünden „Bergen 17km“. Wir laufen immer an der einzigen Straße entlang, auf der es erlaubt ist, das Sperrgebiet zu durchqueren. Wald- und Weideflächen wechseln sich ab, und dazwischen ragen immer mal wieder die unterschiedlichsten Gebäude der Bundeswehr hervor. Überall gibt es Wahnschilder, die das Betreten oder fotografieren des Sperrgebietes verbieten.

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Wir haben das Gefühl in einer anderen Welt zu sein. Bis auf viele Autofahrer, ein paar Fahrradfahrern und einem Fußgänger begegnen wir keiner Menschenseele. Diverse Militärfahrzeuge fahren mit ihrem lüfterähnlichen Geräusch an uns vorbei, viele Fahrer grüßen uns freundlich. Wir, mit unseren Rucksäcken sind bestimmt eine willkommene, optische Abwechslung. Ich fühle michimage.5W7QZX beobachtet und habe bei jedem Schritt das Gefühl, etwas möglicherweise Verbotenes oder Lebensgefährliches zu tun. Aber niemand weist uns zurecht, einmal bekommen wir sogar ein Regendach angeboten, wir lehnen aber dankend ab, da wir noch eine gute Wegstrecke vor uns haben. Obwohl wir mitten durchs Sperrgebiet gehen, ist uns klar, dass wir, mit dem, was wir sehen nur an der Oberfläche dessen kratzen, was in diesem Arial vor sich gehen mag. Ich bin neugierig und würde gerne wissen, was so geheim oder gefährlich ist, dass es vor uns versteckt werden muss und warum… Auf unserem Weg, gibt es nur drei Verkehrsschilder, die uns die gegangene Wegstrecke aufzeigen, wodurch wir jedes Gefühl von Entfernung verlieren. Malerische, farnumwachsene Bäche kreuzen unseren Weg, das Wasser ist rot gefärbt, was auf einen hohen Eisengehalt schließen lässt. Wir machen eine kurze Mittagspause am Straßenrand. Paprikaaufstrich, Röstzwiebeln und Champignons sind eine wirklich leckere Brotbelagskombi. Wir ziehen weiter, vorbei an unzähligen Bäumen.

Es ist ca. 15:00 Uhr als wir das Ende des Sperrgebiets erreichen, zu unserer Rechten weist ein unauffälliges Schild auf die nahegelegene Gedenkstätte Bergen-Belsen hin. Wir biegen links ab und folgen der Landstraßen Richtung Belsen, vorbei an einem gigantischen Militärkasernenkomplex der britischen Armee, der sich über einige Kilometer entlang der Straße erstreckt. Der Weg nach Belsen wird an der rechten Seite gesäumt von einer Informationstafel zum Konzentrationslager Bergen- Belsen, einem sehr kleinen Industriegebiet, einem Bordell und einem Spargelfeld. Als wir anfangen, nach einem Schlafplatz in Belsen zu such, beginnt es zu regnen. Heute sind wir nicht so erfolgreichund fragen uns, bis auf wenige Häuser, durch das gesamte Dorf, bis wir schließlich einen Spargelverkaufsraum angeboten bekommen. Wir werden sogar auf Kaffee und Kuchen eingeladen.

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Am nächsten Tag brechen wir um 10:00 Uhr Richtung Gedenkstätte auf, am letzten Abend ist auch Julika wieder zu uns gestoßen. Nach etwa 4 km haben wir unser Ziel erreicht und betreten den Ausstellungsbereich, das ehemalige Lagergelände selbst, ist komplett von Bäumen umgeben. Wir wandern zuerst durch die Ausstellung, sehen uns Interviews mit Überlebenden an, lesen Texte und lassen viele schaurige und weniger schaurige Fotos auf uns wirken. Im ersten Abschnitt wird über das Kriegsgefangenenlager Bergen-Belsen berichtet, Gefangenenakten sind ausgestellt und viele Tafeln berichten über die haarstreubenden Zustände. Etwas weiter wird das Konzentrationslager thematisiert. In der Mitte der Ausstellung wird von der Befreiung 1945 durch die Briten erzählt und Fundstücke gezeigt, die bei Ausgrabungen auf dem ehemaligen Lagergelände zum Vorschein kamen. In einem Raum werden Filme von der Zeit und „Aufräumarbeiten“ kurz nach der Befreiung gezeigt. Es werden Leichenberge gezeigt, vor Hunger bis auf die Knochen abgemagerte, leblose Körper, die in Massengräber geworfen werden. Das, was wir sehen, können wir nur sehr schwer ertragen. Im oberen und letzten Teil der Ausstellung wird über die Nachkriegszeit berichten, die Gerichtsprozesse und wie es für die Überlebenden weiterging. Die gesamte Ausstellung ist sehr minimalistisch gehalten, die Wände sind aus unverputztem Rohbeton, um nicht von der Tragik des Ortes abzulenken. Eigentlich möchte ich so viel wissen und erfahren, aber bald merke ich, wie meine Aufmerksamkeit aufgebraucht ist und ich aufgeben muss, Texte zu lesen.

image.3VE2ZX image.NW1YZXAnschließend besuchen wir das ehemalige Lagergelände. Alles ist unglaublich friedlich, Vögel zwitschern. Zu sehen sind die Umrisse der ehemaligen Gebäude und diverse Grabhügel, auf denen die Zahl der dort begrabenen Toten eingraviert ist. Ein Obelisk und einige Gedenksteine gedenken der Opfer. Hier an diesen Ort wirken all das Schreckliche, all das Leid und all die vielen Menschen, die ihr Leben verloren haben, noch viel unwirklicher, als in der Ausstellung, absolut nicht (be-)greifbar. Das, was wir wirklich bewusst wahrnehmen, ist ein durchaus hübscher Fleck Natur, Hügel und Zahlen auf Stein. Hier wird mir wieder einmal bewusst, wie vergänglich so vieles ist, was die Menschheit durchlebt, das Gute, wie das Schlechte. Leise beginnen wir uns über die Ausstellung auszutauschen. Das Reden, über das, was wir gesehen haben, fällt uns allen schwer. Wir wünschen uns Erklärungen und können doch nur mutmaßen. Wir wollen begreifen und doch haben wir nur eine ganz leise Ahnung von dem, was damals passiert ist. Ich merke, wie sich meine Aufmerksamkeit und meine Wut auf Punkte in der Gegenwart richtet. Eine Familie, die mit ihren kleinen Kindern die Ausstellung besucht, obwohl diese erst ab vierzehn empfohlen wird. Die Cafeteria, in der es hauptsächlich Fleisch zu essen gibt. Im Grunde unwichtige Kleinigkeiten, aber „real“ Fassbares, an dem sich mein Verstand festbeißt. Aber dennoch sind wir alle froh, die Gedenkstätte
besichtig zu haben. Wir sind sehr antriebslos, als wir die 7 km nach Bergen antreten. Wieder geht es vorbei an der kilometerlangen Militärkaserne. Wir finden es immer bedenklicher und unfassbarer, das direkt in nächster Nähe zur Gedenkstätte ein militärisches Sperrgebiet und eine Kaserne ist, welche schon in der NS-Zeit bestand (wie wir in der Ausstellung erfahren haben). Sehr erschöpft, aber auch glücklich, die bedrückende/komische Atmosphäre in Belsen verlassen zu haben, erreichen wir Bergen. Dort werden wir vom Fahrer eines Geländewagens angesprochen, der uns schließlich imhistorischen Gartenhaus seiner Familie schlafen lässt. Unglaublich nette Menschen, mit einem wunderschönen Garten, die uns am nächsten Morgen sogar noch Frühstück servieren.

Kommentar (1) Schreibe einen Kommentar

  1. Liebe Tabea,

    was geschieht eigentlich in Bergen-Belsen? Diese Frage stellte ich mir auch, als ich vor fünf Jahren einer Eingebung folgte und nach Bergen-Belsen fuhr. Das Gebiet hat etwas sehr Dunkles an sich und es braucht seine Zeit, um sich mit vielen Faktoren auseinanderzusetzen.

    Nach dem Besuch des ehemaligen Konzentrationslagers schrieb ich zwei Kurzgeschichten.

    In ‚Augenblicksversagen‘ stellt der Journalist Simon ein Konzept für meditative Geschichtsarbeit vor. Mir war es wichtig, eine neue Sensibilität durch spirituelle Dimensionen zu ermöglichen – weit ab von intellektuellen Fakten, die in ihrer Dichte eher entmutigen oder schlimmstenfalls Interessierte in einen Schockzustand versetzen. Zugleich wird Bergen-Belsen zum Schauplatz einer Handlung, in der ein alter Nazi den Journalisten mit einer Waffe bedroht.

    ‚Das Lichtwesen aus Bergen-Belsen‘ ist eine Kurzgeschichte, die es möglich macht, sich in das Schicksal der Opfer hineinzufühlen. Während einer Meditation erfährt Immo, dass er in einem früheren Leben in Bergen-Belsen gewesen ist – als ungeborenes Kind eines polnischen Mädchens, von den Nazis verschleppt, vergewaltigt und ermordet.

    Bergen-Belsen lässt uns Fragen stellen. Ich glaube, dass es möglich ist, die Anonymität der Opfer durch Recherchen und Erzählungen ansatzweise auflösen zu können, wenn wir den Menschen ein Gesicht geben. Und gleichzeitig ist es notwendig, sich mit der Gegenwart zu beschäftigen. Wenn es denn Deine eigene Aufgabe oder Dein Wunsch ist.

    Alles Liebe
    Burcado

    DAS LICHTWESEN AUS BERGEN-BELSEN
    https://krishnameetsradha.wordpress.com/9-2

    AUSGENBLICKSVERSAGEN
    https://krishnameetsradha.wordpress.com/10-2

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