…ein kurzer Bericht über sieben Tage Wanderschule
Am Ostrand vom Harz starteten wir, um eine Woche lang gemeinsam zu erproben, wie sich Wandern und lernen verbinden lassen. Insgesamt 13 junge Menschen aus den unterschiedlichen Orten Deutschlands, die sich untereinander nur teilweise kannten. Vorgenommen hatten wir uns zwei Themenschwerpunkte: Die ästhetischen Briefe Schillers und Persönlichkeitsentwicklung. Als wir dann am ersten Abend besprachen, welche Wünsche und Erwartungen die einzelnen Leute für die Woche hatten, stellte sich heraus, dass nur einige wirklich Lust auf die ästhetischen Briefe hatten und wir beschlossen, dass wir einige Lernpausen machen würden, in denen diejenigen Briefe lesen würden, während die anderen andere Sachen machen können und ansonsten des Fokus auf die Persönlichkeitsentwicklung zu legen. Aber Persönlichkeitsentwicklung ist ein großes Wort. Was ist das eigentlich und noch viel mehr: Wie können wir bewusst versuchen unsere Persönlichkeit zu entwickeln? Wir sammelten Vorschläge und Ideen und hatten schon sehr bald einen ganzen Haufen an Ideen zusammen, weshalb wir dann besprachen, welche davon wir diese Woche wirklich umsetzen wollen. Ich glaube, dass die Persönlichkeitsentwicklung schon mit diesem Gespräch ihren Anfang nahm, denn es wurden Dinge ausgesprochen und Ideen ausgetauscht, die sonst selten in Gesprächen zu hören sind.
Da war zu allererst die Idee auf unsere Sprache zu achten und während der Essenszeiten einige Wörter zu streichen. Wir begannen mit den Wörtern:
-“man” (um uns nicht mehr hinter diesem anonymen, verallgemeinernden Wörtchen zu verstecken, sondern genauer zu differenzieren und stattdessen “ich” oder “wir” zu verwenden)
-”muss” (“Kein Mensch muss müssen”- Schiller, stattdessen verwendeten wir “wollen”, z.B. Ich habe keine Zeit, ich muss noch was erledigen -> Ich will lieber etwas anderes tun)
-”aber” ( weil ein “aber” suggeriert, das zwei Dinge in Widerspruch zueinander stehen, was oftmals gar nicht der Fall ist und wir versuchen wollten in Diskussionen nicht gegen den anderen zu reden (“Ja, aber …”), sondern ihn zu verstehen.
Wir besprachen noch eine ganze Reihe anderer Wörter, wie “schön”, “cool”, “krass”, “gut”, “geil”, die wir bei fast jeder Gelegenheit verwendeten, obwohl es meistens passendere und präzisere Wörtern gibt oder über Wörter wie, “vielleicht” oder “eigentlich” oder den Konjunktiv hinter denen wir uns verstecken, statt die Dinge klar zu sagen.
Und schon mit den ersten drei Wörtern waren wir ziemlich ausgelastet und ständig am stottern, Fehler machen, korrigieren und lachen. Die Stimmung war bei den meisten Mahlzeiten ziemlich lustig und den meisten von uns fiel zum ersten Mal auf, wie oft sie solche Floskeln benutzten. Obwohl wir dann irgendwann hinterfragten, ob so ein Ansatz Sinn macht, weil wir nur damit beschäftigt waren auf die Fehler zu achten, anstatt darauf, wie wir es eigentlich machen wollten.
Wir sprachen auch über Ehrlichkeit und Kommunikation. Wie oft wir Gedanken und Gefühle nicht aussprechen, Ärger in uns hineinfressen und Dinge beschönigen, um andere nicht zu verletzten. Wir oft wir auch über andere Mutmaßen, anstatt offen ehrlich unsere Meinung zu äußern und wie oft solche falschen Interpretationen zu furchtbaren Konsequenzen führen. Wir versuchten die Woche über ehrlich zu sagen, wie es uns ging, wenn wir etwas blöd fanden und unsere Bedürfnisse jederzeit auszusprechen. (Zum Beispiel in Blitzlichtrunden bei der Frage, ob wir weitergehen oder eine Pause brauchen)
Dann sprachen wir noch über die Führungsrollen und Verantwortlichkeiten, die immer die selben übernehmen und kamen zu dem Schluss, dass sich ruhig Spezialisierungen bilden können und dass wir immer wieder bewussten Raum dafür schaffen wollen, um zu prüfen und auszusprechen, ob wir alle mit den Rollen zufrieden sind und ob jemand gerne mal etwas anderes ausprobieren und lernen würde.
Außerdem sprachen wir über die ganzen Höflichkeitsformen, die uns anerzogen wurden und von denen uns Einige sinnlos erschienen und andere, die oftmals nur leere Floskeln sind. Als Experiment versuchten wir eine Mahlzeit lang, jedes “Bitte” und “Danke” weg zu lassen. Probiert das ruhig mal aus. Es ist unglaublich, wie seltsam es sich anfühlt, nicht “Danke” zu sagen und wie oft es einem rausrutscht, selbst wenn man extra darauf achtet. Statt den vielen floskelhaften “Danke-Wörtern”, die wir am Tag so sagten, machten wir Abends eine Runde, wo jeder neben den Dingen, die ihn gestört hatten, sagte, wofür er wirklich Dankbar war. Auch das war eine wundervolle Erfahrung und wir fragten uns, ob, wenn wir das länger täten, nicht von alleine die leeren “Danke-Wörter” verschwinden würden.
Eine Mahlzeit redeten wir gar nicht und versuchten nur über Blicke zu kommunizieren, wenn wir etwas wollten, woraus sich entwickelte, dass wir auch in allen folgenden Mahlzeiten nicht mehr sagten, wenn wir etwas wollten, sondern es mit Blicken versuchten.
Tagsüber ging es bergauf und bergab mit sehr, sehr vielen Pausen, wunderbarer Aussicht und einigen Seen. Abends übernachteten wir meistens in viel zu kleinen Schutzhütten, in die wir uns quetschten, mit Teelichtern schmückten und Brot mit gesammelte Pilze aßen, bevor wir noch eine Reflektionsrunde machten, in der wir sagten, was uns den Tag über beschäftigt hatte und wofür sonst noch kein Raum gewesen war, es auszusprechen. Wir machten Gesangsaktionen in Kirchen, Fußgängerzone und Sparkasse. Es war ein bisschen, als würden die Orte, die wir entdeckten, sich danach sehnen, von uns mit Bedeutung und Geschichten gefüllt zu werden. Das wohl größte Projekt war, gegen Ende der Woche über Fremd- und Eigenwahrnehmung zu sprechen. Jeder der wollte durfte sagen, wie er sich selbst wahrnimmt und hörte von den anderen, wie sie ihn wahrnehmen. Was in diesen vielen Stunden des intensiven Gesprächs mich am meisten beeindruckte, war wie sehr wir Menschen anscheinend in der Lage sind, tief in andere hinein zu schauen, wenn wir es nur versuchen. Es war erstaunlich wie viele Dinge mir ein- und auffielen, wenn ich mir eine Person eine lange Zeit ins Gedächnis rief. Bei keinem ging es um Oberflächlichkeiten, sondern fast immer sofort um Kernthemen der Persönlichkeit. Ich glaube, wir alle haben eine Menge wertvoller Gedanken und Erfahrungen mitgenommen und als wir am Sonntag auseinander gingen, hatten wir das einstimmige Gefühl, das es jetzt erst richtig losgehen könnte.
-von Emil Funkenflieger